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Der Reformgarten – ein Ausflug ins frühe 20. Jahrhundert

|   Garten- und Landschaftsarchitektur

Der überraschende Fund von 320 Plänen, im Nachlass des Schweizer Landschaftsarchitekten Walter Leder, aus der Schaffenszeit von Leberecht Migge (1881-1935), einem bekannten deutschen Landschaftsarchitekten, war Ende November Anlass für eine Fachtagung an der Hochschule für Technik Rapperswil. Sie beleuchtete mit vielen spannenden Referaten die Entstehung, die Rolle und die Merkmale des Reformgartens in der unruhigen Epoche des frühen 20. Jahrhunderts.

Die Kernfrage von damals, wie dem Leben in Zeiten der Beschleunigung Sinn zu geben ist, versteht sich besser, wenn die geschichtlichen Hintergründe bekannt sind. Das frühe 20. Jahrhundert war geprägt von politischen Spannungen und starken sozialen Ungerechtigkeiten, ausgelöst unter anderem durch die Industrialisierung. Die Entstehung repräsentativer Villenviertel stand im Kontrast mit dem Heranwachsen dichter Arbeiterquartiere. Grassierende Armut, Perspektivlosigkeit und der Mangel an Licht und Luft standen dem Wohlstand einer Bourgeoisie gegenüber. Der Nährboden für den breiten Wunsch nach Veränderung und Erneuerung war geschaffen. Diese Reformbewegung fand Ausdruck nicht nur in der Kunst, im Handwerk und der Architektur, sondern auch im Garten. Die folgenden Ausführungen lesen sich umso spannender, wenn man sich die Parallelen zur heutigen Zeit vor Augen hält. Denn wie Dr. Susanne Karn, Professorin für Freiraumplanung an der HSR in ihrer Einführungsrede betonte, wurde bereits in jener Zeit die Diskussion über die Leistungen des grünen Freiraumes geführt. Der Grundstein für die Verdichtungs- und Qualitätsdebatte legten die damaligen Protagonisten der Landschaftsarchitektur vor über 100 Jahren.

Fortschritt oder Niedergang?

Anschaulich beschrieb Professor Dr. Jakob Tanner von der Universität Zürich die Jahrzehnte um die Jahrhundertwende in der die Gesellschaft in einer emotionalen Ambivalenz gespalten war. So gibt es für diese Epoche zwei Bezeichnungen. Die Fortschrittsgläubigen priesen die verheissungsvolle Zukunft mit wirtschaftlichen Erfolgen, wissenschaftlichen Durchbrüchen und sportlichen Rekorden und fühlten sich angekommen in der «Belle Époque». Jene, die die Jahre zwischen 1880 und 1914 als «Fin du Siècle» bezeichneten, fürchteten die Dekadenz, mahnten vor den negativen Folgen missachteter menschlicher Grenzen und sahen sich durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges bestätigt.

In dieser polarisierten Gesellschaft bewegte sich ein wichtiger Exponent der Reformgartenbewegung: Leberecht Migge. In seinen drei Büchern mit den Titeln: Die Gartenkultur des 20. Jahrhunderts von 1913, Jedermann Selbstversorger von 1919 und Der soziale Garten – Das grüne Manifest von 1926 beschreibt er seine Ideen. Der Referent erklärte wie Migge in der Verschönerungs- und Veredelungsarbeit im Garten eine Möglichkeit sah, die Bürgerinnen und Bürger aus der kapitalistischen Bewegung herauszuführen. Er wollte sozusagen den Klassenkampf mit dem Gartenkampf substituieren. Auch deshalb sei der Garten eine grenzüberschreitende Notwendigkeit. Vor allem aber betrachtete Migge den Garten als ästhetisches Phänomen. Ihn wahrzunehmen und zu formen, bedinge die Schulung des Sehens.

Die Suche nach einer neuen Lebensform

Dr. Christoph Hölz stellvertretender Leiter am Archiv für Baukunst der Universität Innsbruck zeigte auf, dass die Gartenbewegung eingebettet war in eine breit gefächerte Lebensreformbewegung. Zwischen 1880 und 1933 erfasste sie weite Teile in den Bereichen Umwelt und Heimat, Wohnen und Arbeiten, Erziehung und Bildung, Kunst und Kultur sowie Religiosität und Spiritualität. Hölz nannte den Monte Verità, der Berg der Wahrheit oberhalb Asconas, als wichtigen Zeitzeugen in der Schweiz. Dort finden sich noch die schlichten Lichtlufthütten der Lebensreformer, die in ihren Reformkutten harte Garten- und Feldarbeit verrichteten und die Beziehung Mensch – Natur mit ihrem Ausdruckstanz nackt auslebten.

„Die Architektur erlebte einen Neubeginn“, wusste der Referent zu berichten. Mit dem Bauhaus-Hotel (erb. 1925-1927) hielt die moderne Architektur auf dem Monte Verità Einzug und das Goetheanum in Dornach SO (erb. 1925-1928) bricht mit allen klassischen Architekturregeln. Auch Hermann Hesse, zeitlebens ein motovierter Gärtner, liess 1907 in Gaienhofen oberhalb des Bodensees sein Haus mit einer grossen Gartenanlage im Gedankengut der Lebensreformer erbauen. Der Garten hatte damals für den Gesamtausdruck des Hauses eine grosse Bedeutung. Neben dem Selbstversorgergarten mit Obst und Gemüse durften üppige Blumenrabatten nicht fehlen. Streng geschnittenen Buchenhecken und Schlingpflanzen am Haus gehörten ebenfalls zum Aspekt des damaligen Zeitgeistes.

Skepsis am Reformgarten

Einen kleinen Paukenschlag leistete sich Professor Dr. Gert Gröning von der Universität der Künste in Berlin. Mit seinem Vortrag äusserte er seine Zweifel, ob es in Deutschland überhaupt Reformgärten gäbe. Seine professorale Art bespickt mit fundierten Argumenten wirkte – die nachfolgenden Referenten trauten sich kaum noch von Reformgärten zu sprechen. Er nannte ein paar Hindernisse, die sich seiner Meinung nach als so stark erwiesen, dass die Gartenkunst sich nicht so reformieren konnte wie die Musik oder die Malerei. Als Hindernis betrachtete Gröning den Konservatismus, also das Unvermögen mit althergebrachten Gestaltungsgrundsätzen zu brechen. Weiter verhinderte die Intoleranz von Fachleuten, das vom Schema Abweichende vorurteilslos zu würdigen und schliesslich herrschte die Furcht vor den Anhängern Gustav Meyers, die mit seinem Lehrbuch der schönen Gartenkunst (1860/1873) die Gestaltungsgrundsätze vorgaben, um nur drei der wichtigsten Hemmnisse zu nennen.

Ludwig Lessers Urenkelin am Rednerpult

Ludwig Lesser (1869-1957) entwarf in und um Berlin insgesamt rund 340 öffentliche und private Grünanlagen. Nun stand Katrin Lesser, selbst diplomierte Landschaftsarchitektin in der Hauptstadt Deutschlands und berichtete über ihren Urgrossvater. Faszinierend! Ludwig Lesser, ab 1909 erster freischaffender, ausschliesslich planerisch und beratend tätige Gartenarchitekt Deutschlands war mit seinen Projekten nicht nur ein wichtiger Exponent der 1920er-Jahre, er war auch Dozent, Autor mehrerer Fachbücher und Präsident der Deutschen Gartenbau Gesellschaft. Seine These, dass die zunehmende Verstädterung und Technisierung des Lebens einer gewissenhafteren und umfassenderen gärtnerischen und architektonischen Planung bedürfe, ist bis heute aktuell. Er beklagte das Unvermögen der Architekten eine gute Stimmung zwischen Haus und Garten zu schaffen und plädierte, dass sie eine «unzerreissbare Einheit» bilden sollten. Wie ein Haus, so müsse auch ein Garten in verschiedene Zimmer mit einem bestimmten Zweck gegliedert werden, die nicht fremd nebeneinander stehen dürften. Vielmehr solle jeder spüren, wie die einzelnen Gartenteile sich aneinanderschmiegten und sich organisch zu einem «Gartenganzen» zusammenfügten. Obwohl Ludwig Lesser keine Möglichkeit erhielt Parkanlagen zu gestalten, war er ein grosser Vertreter der Volksparkbewegung, die aus den USA auf Europa überschwappte. Er stellte acht Gestaltunggrundsätze auf. Einer davon seien sonnige Wiesen, bei welchen die Sportfunktion über dem Wunsch eines tadellosen Rasens steht. Diese sollten Stadtkindern ermöglichen, beim Ballspiel die schönsten Stunden ihrer Kindheit verleben zu dürfen.

Leberecht Migge: unbequem und visionär

Leberecht Migges (1881–1935) rücksichtslose Art, seine angeborene Neigung zu extremen Auffassungen und umwälzerischen Bestrebungen trugen ihm einige Schwierigkeiten in der beruflichen Zusammenarbeit ein. Nichts desto trotz lief sein 1913 in Hamburg gegründete Landschaftsarchitekturbüro erfolgreich und er konnte an vielen grossen Projekten mitarbeiten. Dr. Sophie von Schwerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HSR erläuterte Migges Theorien zu Reformen in der Gartenkultur und stellte einige seiner Projekte vor. Migge sprach der Gartenkultur einen sozialen Auftrag zu. Seiner Meinung nach sollte und konnte der Garten Funktionen übernehmen, von der die ganze Gesellschaft profitieren würde. Zu jener Zeit nämlich darbte die Stadtbevölkerung in den Arbeiterquartieren. Es fehlte ihnen an Nahrung, Bewegung, Licht und Erholung. Die Forderung Migges nach dem Garten für jeden, sollte diesen Mangel ausgleichen. Der Landschaftsarchitekt plante geometrisch, formal und grosszügig. Den Nutzgarten legte er nach den Prinzipien der Selbstversorgung an, oftmals aber geplant wie ein Ziergarten. Auf diese Weise zeigte er die Verbindung des Schönen mit dem Nützlichen. Auf der Suche nach Idealen wagte sich Leberecht Migge an alles heran. So gehörten Villengärten wie der Garten Emden oder jener von Otto Collasius, beide aus Hamburg aus den Jahren 1910 und 1914, ebenso zum Repertoire wie Siedlungsplanungen und Parkanlagen. An dieser Stelle sind die Laubengärten der Wohnüberbauung Berlin Schönenberg von 1918 und der Mariannenpark in Leipzig aus dem Jahr 1913 zu nennen. Es verwundert nicht, zu erfahren, dass er sich mit der Stadtplanung Brandenburg auch mit Raumplanung auseinander setzte.

Pflanzenverwendung im Reformgarten

„Ein Schwerpunkt im Reformgarten waren die Stauden“, wusste Alexandra Musiolek, diplomierte Landschaftsarchitektin aus Berlin. Hintergrund war der Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Wandel in der Naturwahrnehmung. Es gab einen starken Wunsch nach ornamentalischen Teppichbeeten mit reinen, kräftigen Farben, symmetrischer Gliederung und rhythmischer Wiederholung. Niedrige Stauden wurden gern als Einfassungsband entlang von Wegen eingesetzt. Üppige Staudenkombinationen schmückten Senkgärten und Uferzonen von Wasserflächen sowie Terrassierungen mit Trockensteinmauern. Weitere typische Reformgartenelemente waren Baumalleen und –raster. Beliebt waren dafür Kastanien, Linden oder Pappeln. Geschnittene Gehölze als Hecken, Kuben oder Laubengänge aus Buchs oder Hainbuchen zierten ebenso häufig die Gärten der Jahrhundertwende wie Obstspaliere an Hauswänden, Rosengärten entlang von Mauern oder berankte Pergolen mit üppigen Glyzinien oder Rosen. Aber auch Einzelbäume durften in den grossen Villengärten ihre Wirkung entfalten. Rotlaubige Gehölze wie die Blutbuche, rotblättrige Ahorne oder die Blutpflaume trafen den Nerv der Zeit.

Reformgärten in der Schweiz

In der Schweiz gelte der Zürcher Gartenarchitekt Gustav Amman (1885-1955) als der Pionier der Landschaftsarchitektur der Moderne, meinte Dr. Johannes Stoffler, Landschaftsarchitekt und Partner beim Büro SMS in Zürich. Ammann erwarb sein technisches Fundament in der Landschaftsgärtnerei Otto Frobel. Während seinen Lehr- und Wanderjahren in Deutschland arbeitete er in verschiedenen Gartenarchitekturbüros unter anderem bei Ludwig Lesser in Berlin. Hier begegnete er Leberecht Migge, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband. Nach seinem Rückzug in die Schweiz übernahm er 1911 die Funktion des leitenden Gartengestalters beim Traditionsbetrieb Froebels Erben, mit dem er Architekturgärten für das wohlhabende Bürgertum projektierte. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere wurde ihm die gärtnerische Leitung der Schweizerischen Landesausstellung 1939 übertragen.

Einfache aber robuste Gestaltungskonzepte trugen dazu bei, dass die Stadtzürcher Parkanlagen aus der Zeit der Reformbewegung die ersten 100 Jahre gut überstanden haben. Judith Rohrer diplomierte Landschaftsarchitektin und Leiterin der Fachstelle Gartendenkmalpflege der Stadt Zürich stellte deren 5 vor. So entstanden unter der Leitung des gut vernetzten Garteninspektors Gottlieb Friedrich Rothplez (1864-1932) um 1916 die Neumünsteranlage und um 1924 die Josefswiese. Die Gebrüder Walter und Oskar Mertens (1885-1943 und 1887-1976) wagten sich 1938 an die erfolgreiche Umgestaltung der Bäckeranlage. Diese wurde 1901 für das von der Industrialisierung überrollte Aussersihl völlig an den Bedürfnissen der Bevölkerung vorbeigeplant. Der Bullingerhof entstand 1930 durch eine Blockrandüberbauung. Volksgesundheit und -sport war zur Jahrhundertwende enorm populär. Dafür wurde 1930 die Sportanlage Sihlhölzli erbaut. Aus den damals frisch gepflanzten, schmächtigen Bäumchen entlang des Flusses ist heute wohl die mächtigste und schönste Platanenallee der Stadt Zürich herangewachsen.